Buch als Therapie

Bücher als Therapeuten

„Man kommt zehnmal anders zurück“

Liebeskummer, Ängste oder Sinnsuche – nicht selten geben Bücher genau die passende Antwort. Doch welche sind die richtigen, um Lebenskrisen zu bewältigen? Damit beschäftigt sich die noch recht junge Therapieform Bibliotherapie. Sie setzt dort an, wo „die klassische Psychotherapie an ihre Grenzen stößt“, erklärt der Psychologe Norman Schmid.

Bei den klassischen Therapieformen wird versucht, über die Sprache und das ständige Wiederholen bestimmter Themen, eine Verhaltensänderung zu bewirken. Ist die Problemstellung relativ klar, führt das mitunter auch zum Erfolg, aber eben nicht immer. Ist die Sachlage festgefahren, kann die Bibliotherapie „ein guter Ansatz sein, weil sie einen anderen Blick auf die Problematik wirft“, erklärt Schmid im Gespräch mit ORF.at.

In seinem Buch „Auf der Couch mit Doktor Buch“ stellt der Psychologe eine Reihe von Büchern vor, die aus therapeutischer Sicht sinnvoll sind. Die Liste reicht von Klassikern wie Stefan Zweigs „Schachnovelle“ über „Ein fliehendes Pferd“ von Martin Walser bis hin zu Jugendbuchklassikern wie „Der Club der toten Dichter“ von Nancy Kleinbaum und „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf. Doch nicht jedes Buch ist für jeden gleichermaßen gut geeignet, warnt Schmid.

Texte helfen, Worte zu finden

Gerade bei einer Depression oder der Suche nach dem Lebenssinn hat die Bibliotherapie eine besonders gute Wirkung. „Hier können die Menschen ihre Probleme meist nur schwer in Worte fassen“, erklärt der Psychologe, der in St. Pölten auch eine eigene Praxis betreibt. Will man nun in diesen Menschen die Ressourcen für das Schöne und Positive wieder aktivieren, könnten sie das zwar rational verstehen, jedoch nicht umsetzen, weil es für sie in der momentanen Situation nicht erlebbar sei. „Über das Lesen und das Eintauchen in eine andere Stimmungslage werden positive Gefühle wieder aktiviert, die lang verschollen waren“, erklärt der Psychologe.

Dr. Norman Schmid

Dr. Norman Schmid

Psychologe Norman Schmid

Umgekehrt können düstere, traurige Bücher die depressive Stimmung noch verstärken. „Wenn jemand schwer depressiv ist, würde ich ihm keine Bücher empfehlen, wo ein Suizid vorkommt“, sagt Schmid und warnt davor, unreflektiert Bücher auszuwählen. Diesen Klienten würde Schmid lösungsorientierte Bücher vorschlagen, in denen zum Beispiel jemand eine Krise gemeistert hat und gestärkt aus ihr hervorgegangen ist. „Ein gutes Beispiel ist hier ‚Ein Sommer ohne Männer‘ von Siri Hustvedt“, so der Psychologie. Dabei geht es um eine Frau, die nach einem Nervenzusammenbruch aufs Land zu ihrer Mutter zieht und sich unter anderem auch durch Literatur therapiert.

Kein Rezept für jede Krankheit

„Wenn es bei der Romantherapie in Richtung Rezept geht, also, der mit dieser Krankheit muss diesen oder jenen Text lesen, dann muss man natürlich vorsichtig sein“, warnt auch Karin Oblak. Die Trainerin in der Erwachsenenbildung hat im Bildungshaus Mariatrost ihren Abschluss in Poesie- und Bibliotherapie gemacht. „Natürlich hat jeder Text eine Intension. Aber wie genau er mich anspricht, das ist bei jedem unterschiedlich“, sagt Oblak und verweist auf ihre langjährige Arbeit als Sterbe- und Trauerbegleiterin. „Wenn ich mit einem Text arbeite, dann muss ich denjenigen schon kennen und ein bisschen auch um seine Biografie wissen.“

Lesen sei hier wie ein Probehandeln. „In Krisensituationen gehen unsere Emotionen wild durcheinander. Lesen hilft, Ordnung in das Chaos zu bringen, indem man auch lernt, seine Gefühle zu sortieren und zu benennen.“ In der Weltliteratur finde man viele Beispiele für die verschiedensten Gemütszustände, erklärt die Grazerin im Gespräch mit ORF.at.

Fokus in Liebesdingen weiter öffnen

Ein klassischer Bereich, der immer wieder zu Verwirrung und Missverständnissen führt, ist die Liebe. Und kaum einem Thema widmet sich die Literatur ausführlicher und umfassender. Auch Psychologe Schmid greift hier gerne zu Büchern. „Bei Liebes- und Beziehungsproblemen empfehle ich Paaren gerne verschiedene Bücher“, erzählt der 45-Jährige aus seiner täglichen Praxis. Eines davon ist „Ein fliehendes Pferd“ von Martin Walser. Darin treffen sich zwei grundverschiedene Ehepaare zufällig im Urlaub am Bodensee. Helmut fühlt sich durch das Zusammentreffen mit seinem ehemaligen Schulfreund Klaus in seiner Routine gestört. Dieser wiederum nützt die Gelegenheit, um seine neue Frau Hel wie eine Trophäe zu präsentieren.

Bibliotherapie

Literarische Texte werden verwendet, um Heilungsprozesse zu unterstützen, Probleme zu lösen und Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. Im deutschsprachigen Raum wurde die Idee in den 1970er Jahren von Hilarion Petzold und Ilse Orth aufgegriffen und zur Integrativen Poesie- und Bibliotherapie weiterentwickelt.

„Auf der einen Seite die pragmatisch, gut geölte Beziehung von Helmut und Sabine, auf der anderen Seite die heiße und vermeintlich romantische von Klaus und Hel. Doch beide merken, dass sie nicht so leben, wie sie leben sollten“, fasst Schmid den Roman zusammen. „Vor allem Menschen, die darüber klagen, dass die Liebe verloren gegangen ist, zeigt das Buch: Aha, schau her, es gibt auch noch anderes. Etwas, das ich schon vergessen habe.“ Genau auf diesen Aha-Effekt zielt die Bibliotherapie ab.

„Ich habe das Buch auch einer Patientin empfohlen, die damit haderte, dass ihr Mann 15 Jahre älter ist und sich emotional nicht so auf sie einlässt, wie sie es gerne hätte. Und die zweifelt, ob die Beziehung Zukunft hat“, erzählt Schmid. Hier könne das Buch durchaus hilfreich sein, weil der enge Fokus aufgemacht werde, den man sich selbst über die Art, wie eine Beziehung auszusehen hat, auferlege.

„Fortgeblasen all die negativen Gedanken“

Dass Worte auch körperlich wirken, zeigt Zweigs Roman „Schachnovelle“ gleich in zweierlei Hinsicht. Ein Mann wird von den Nazis mit absoluter Isolation gefoltert. Nur durch ein Buch mit Schachspielzügen, das er sich heimlich aneignen kann, bleibt er am Leben. „Fortgeblasen all die negativen Gedanken, die Hoffnungslosigkeit und Sorgen“, beschreibt Zweig das Wiederaufflackern der Lebensgeister. Als er bei einer Schifffahrt viele Jahre später gegen den amtierenden Schachweltmeister antritt, kommen die Erinnerungen jedoch mit voller Wucht zurück und lassen ihn förmlich wieder erstarren. „Es spiegelt wider, wie etwas die Rettung sein kann, andererseits die Gefahr, dass man in diese Muster wieder hineinrutschen kann“, so Schmid.

Buchhinweis

maudrich

Norman Schmid: Auf der Couch mit Doktor Buch. Eine Bibliotherapie. Maudrich, 245 Seiten, 22,50 Euro.

Neben Romanen lassen sich für spezielle Situationen Probleme auch eigens in Metaphern verpacken. „Gerade im Bereich der systemischen Therapie arbeitet man schon lange mit Texten, die speziell geschrieben werden“, erklärt Beraterin Oblak. In den USA ist diese Therapieform schon viel länger bekannt. Überhaupt würden im angloamerikanischen Raum und in Skandinavien Schreiben und Lesen als Therapieformen viel häufiger eingesetzt. So werden in Gefängnissen, Rehabilitationszentren, Beratungsstellen, Kinder- und Altersheimen häufig kreative Schreib- und Lesekurse angeboten und in amerikanischen Kliniken Bibliotheken eingerichtet.

Zur Not tut’s auch der Film

Wer sich so gar nicht zum Lesen motivieren kann, kann sich viele Bestseller auch als Film ansehen. „Manchmal ist der Film sogar besser als das Buch“, bricht Schmid eine Lanze für den multimediale Literaturgenuss, „man muss aber aufpassen, dass er auch im Gedächtnis bliebt.“ Noch besser, man stöbert im eigenen Bücherschrank. „Wenn man ein Buch noch einmal liest, ist es jedes Mal anders. Man kann ein Buch zehnmal lesen, und zehnmal kommt man anders wieder zurück.“

Gabi Greiner, ORF.at

 

www.orf.at, abgerufen am 18.12.2016, 12:02

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